literar. Produktionen

Zum Geburtstag des Grundgesetzes:

Ein Kurzgeschichten-Wettbewerb

Die Würde des Menschen
ist unantastbar.

Art. 1, Grundgesetz

Das Grundgesetz, unsere Verfassung, feiert heute Geburtstag. In den 74 Jahren, seit es unser Grundgesetz gibt, sind einige Artikel hinzugekommen oder wurden verändert, aber Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ bleibt aufgrund der Ewigkeitsgarantie unsere oberste Richtschnur. Dass eine Verfassung einen Eid auf den Menschen ablegt, war damals ein radikaler Fortschritt, welcher durch die Erfahrungen der Nazi-Diktatur verständlich wird. Menschenwürde bekommt nicht nur der Begabte oder der Reiche, nicht nur die Sportliche oder die Schöne: Jeder Mensch ist wertvoll. Artikel 1 schützt den Menschen in seiner Würde. Würde bedeutet: Alle Menschen haben einen Wert.

Im Kurzgeschichtenwettbewerb befand die Jury, bestehend aus Laura Helten, Anna Hirt, Nikola Kögel und Hartmut Jünger, dass eine Geschichte dieses Thema in besonderem Maße in den Mittelpunkt rückte. Daher könnt ihr diese Kurzgeschichte jetzt auf der KGT-Homepage lesen. Sie ist von Marei Conzelmann aus der 9c. Herzlichen Glückwunsch, Marei.
Vielen Dank aber auch an die anderen Schülerinnen und Schüler, die sich mit dem Thema beschäftigt haben.
Darüber hinaus bedanken wir uns herzlich bei der Buchhandlung Kögel, die den Preis für die Gewinnerin gestiftet hat.

Text: Anna Hirt

Und hier ist die Kurzgeschichte, die den 1. Preis gewonnen hat.

Monster

Er geht die Straße mit gesenktem Blick entlang, die Mütze hat er tief in sein Gesicht gezogen. Sie soll verdecken, was er an sich verabscheut. Er meidet den Blick auf die Pfütze vor ihm, er hat Angst, dass sie sein Gesicht reflektiert. Er hat Angst sich sehen zu müssen. Bei ihm zuhause gibt es keine Spiegel mehr, er konnte seinen Anblick nicht ertragen. Den Blick auf seine entstellte Gesichtshälfte, auf die Narben und Verbrennungen, hat er nicht mehr ausgehalten.

Seine Hände klammern sich stärker um die Griffe der Krücken. Diese verdammten Krücken, ohne die er nicht gehen kann, denn er hat nur noch ein Bein und nicht genug Geld für eine Prothese.

Er humpelt weiter, so schnell wie es geht, möchte nicht, dass ihn irgendjemand sieht.

Er weiß was sie über ihn sagen, er hat sie reden gehört. Sie nennen ihn ein Monster, einen Krüppel. Er geht an einer Frau vorbei, die ein Mädchen an der Hand hält. Er schaut das Mädchen an und bereut es noch im selben Moment. Sie starrt ihn an und fängt an zu schreien. Er schaut schnell weg, flüstert ein „Entschuldigung, Kleine“ und geht weiter.

Er geht in das graue, dreckige Hochhaus, bei dem sein Name verwaschen auf einem der Klingelschilder steht und fährt mit dem Aufzug in den vierten Stock.

Vor seiner Wohnungstür liegt ein Brief. Er hebt ihn auf und es kostet ihn Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Dann steckt er ihn in die Tasche seiner Weste geht rein, streift sich den einen Schuh ab, wirft seine Mütze in die Ecke. Er setzt sich auf sein altes Sofa, lehnt die Krücken an und holt den Brief hervor. Er weiß, dass er ihn nicht lesen sollte, er weiß, was für ein Zettel es ist. Er bekommt sie ständig, jedes Mal mit anderen Sprüchen und jedes Mal verletzen ihn die Worte unbeschreiblich. Und doch hat er jedes Mal die Hoffnung, dass dieser Brief ein anderer sei. Er faltet ihn auf und die Worte, die dort stehen, zerreißen ihn. Jedes Mal denkt er, er hätte sich daran gewöhnt. Jedes Mal denkt er, es könnte ihn nicht mehr verletzen. Und jedes Mal täuscht er sich aufs Neue. Er schließt die Augen, er hätte den Brief nicht lesen sollen, er hat diesen Fehler schon zu oft gemacht. Er stößt wütend die Krücken vom Sofa, diese verdammten Krücken. Er möchte die Tränen wegwischen, die über sein Gesicht laufen, spürt dabei die Narben, diese verdammten Narben.

Er faltet den Brief zusammen, holt eine hölzerne Schachtel unter dem Sofa hervor. In ihr sind alle Briefe, die er bekommen hat. Es sind viele. Er nimmt sie alle heraus und steckt sie in die Tasche seiner Weste. Dann greift er nach seinen Krücken und verlässt die Wohnung, ohne die Tür zu schließen. Im Aufzug drückt er nicht die Taste für das Erdgeschoss, er möchte nach ganz oben. Die letzten Stufen zur Dachterrasse muss er ohne Aufzug bewältigen. Es kostet ihn alle Kraft, doch er schafft es. Er stößt schwerfällig die Eisentür auf und tritt nach draußen. Der kalte Wind streift ihm über seine Arme, die dunklen Wolken hängen so tief, als planten sie, ihn zu erdrücken. Er humpelt stumm an den erhöhten Rand des Gebäudes, setzt sich darauf, sodass sein Bein über dem Abgrund hängt. Er holt die Briefe hervor und starrt sie nüchtern an. Er fängt an den ersten zu lesen. Verschwinde du Monster. Er spürt den Stich in seinem Inneren, verzieht aber keine Miene, wirft den Brief in den Wind, der ihn davonträgt. Er macht weiter, Brief für Brief. Die Leere in ihm ist unerträglich und doch wächst sie mit jedem Wort. Dabei hat er jeden einzelnen schon einmal gelesen. Er schaut dabei zu, wie der nächste Brief davonfliegt, bis er auf einmal von einer Hand aufgefangen wird. Er schreckt zusammen, er dachte, er sei alleine gewesen. Vor ihm steht eine Frau. Ihr blondes, lockiges Haar wird vom Wind zerzaust. Sie mustert ihn und er erwartet, dass sie geht, sobald sie ihn genauer ansieht. So, wie jeder gegangen ist, nachdem er ihnen sein entstelltes Gesicht zugewendet hat. Aber sie geht nicht. Sie setzt sich neben ihn, den Brief immer noch in der Hand haltend. Sie faltet ihn auf und liest laut vor. „Keiner will dich hier. Hau endlich ab.“ Sie runzelt die Stirn, knüllt ihn zusammen und wirft ihn weg.

Er schaut sie an, verunsichert was er tun und sagen soll. Er möchte den nächsten Brief nehmen, doch sie nimmt ihm den Stapel aus der Hand. „Warum tust du dir das an?“, fragt sie. Er starrt auf einen unbestimmten Punkt in der Ferne während seine Augen sich mit Tränen füllen. „Lies, dann verstehst du.“ Sie tut was er sagt, dann seufzt sie und sieht ebenfalls in die Ferne.

Sie sitzen eine ganze Weile schweigend nebeneinander, während die Farben am Horizont immer intensiver werden. „Ich verstehe es immer noch nicht. Warum verbrennst du sie nicht einfach und vergisst sie?“ Er lacht verächtlich auf, sie hat wirklich keine Ahnung. Er möchte allein sein. Er möchte, dass sie geht. Er möchte endlich loslassen und den Schmerz nicht mehr ertragen müssen. Seine Hände sind zu Fäusten geballt, seine Stimme klingt bissiger, als er es beabsichtigt. „Wie soll ich das denn bitte vergessen? Wie soll ich vergessen, dass kleine Kinder Angst vor mir haben? Wie soll ich vergessen, dass mich jeder verachtet? Wie soll ich vergessen, dass ich für alle nur ein Monster bin?“ Seine Stimme bricht. Es stimmt, was man ihm geschrieben hat. Er ist ein Monster, er gehört nicht dazu. Es ist hart, er war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort, aber das Leben ist nun einmal nicht fair. Er kann es nicht verändern, aber er muss es nicht weiter ertragen müssen. Er könnte ein kleines Stück weiter an die Kante rutschen, so weit, bis er keinen Boden mehr unter sich spürt. Er könnte die Augen schließen und loslassen. Mit ihm würde alles fallen, die Demütigungen, seine Einsamkeit, sein Schmerz.

„Geh!“, flüstert er unter Tränen. „Geh, bitte.“ Sie steht tatsächlich auf, doch sie geht nicht weg. Sie legt eine Hand auf seine Schulter. „Wenn du das möchtest, dann gehe ich. Aber ich habe eine Frage: Würdest du das gleiche tun, wenn dir niemand geschrieben hätte? Würdest du dich auch als Monster bezeichnen, wenn niemand sonst es getan hätte?“ Sein Blick wendet sich vom Horizont ab und senkt sich. Er beißt sich auf die Unterlippe, die Fragen verunsichern ihn. „Sie haben mein Leben zerstört, sie haben mich zerstört.“ Seine Stimme ist zittrig und voller Wut, die Tränen in seinen Augen vernebeln ihm die Sicht. „Nur weil andere deinen Wert nicht erkennen, heißt das nicht, dass du nichts wert bist.“ Die Hand löst sich von seiner Schulter, er hört Schritte, die sich entfernen. Er dreht seinen Kopf zu ihr um, sieht, wie sie vor der Tür stehen bleibt und sich ebenfalls zu ihm umdreht. Sie legt den Kopf leicht schief, lächelt tröstlich. „Sie haben weder deinen Wert noch dein Leben genommen, du bist der einzige, der das gerade tut. Ich möchte nicht, dass du gehst. Du bist es wert zu leben.“ Er dreht sich langsam wieder nach vorne, wo sich der Himmel langsam zu färben beginnt. Dann schaut er nach unten in das Lichtermeer, in dem er sich vor ein paar Minuten noch hätte ertränken wollen. Jetzt zögert er. Er schließt die Augen, lässt die warmen Tränen über seine Narben strömen. Er denkt über ihre Worte nach. Er denkt darüber nach, ob er es wert ist, wieder aufzustehen. Ihr vorletzter Satz hallt ihm im Kopf: „Ich möchte nicht, dass du gehst.“ Er atmet tief durch, und dann tut er etwas, was er seit sehr langer Zeit nicht mehr konnte; er lächelt. Er lächelt und sieht dabei zu, wie die Sonne langsam aus dem gefärbten Himmel verschwindet.

Marei Conzelmann, Klasse 9c

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